Lange hatte ich das schon einmal ausprobieren wollen: einfach morgens am ZOB in einen Bus steigen, ein Tagesticket lösen und mitfahren. Aussteigen, wo es interessant aussieht, oder die ganze Tour mitmachen, dann aufs Neue: einen anderen Bus nehmen und wieder los.
Unterwegs Notizen machen, Eindrücke festhalten, Gedanken, Skizzen. Sich überraschen lassen.
Dies Experiment wollte ich gern mit anderen Schreibenden teilen. Zu wissen, dass man nicht allein ist, dass es am Abend eine Gesprächsrunde geben wird, Erfahrungsaustausch, dass jede vorlesen kann, was sie mit-teilen mag, das würde dem ganzen Tag noch eine andere Dimension geben, dachte ich. Tatsächlich empfanden alle Beteiligten die Unternehmung und den ganzen Tag als Bereicherung.
Ich selbst machte die Erfahrung, dass sich meine Wahrnehmung und meine innere Einstellung veränderten:
Während einer Pause saß ich in einem kleinen Park mit meinem LogBuch auf einer Bank und kritzelte. Dass mich eine Frau ansprach, sich zu mir setzte und einfach auf mich einredete, hätte mich sonst irritiert. In diesem Zusammenhang gehörte es dazu und störte mich überhaupt nicht, sondern fand einfach seinen Niederschlag in meinen Notizen:
"Sie war wie angedockt, sie bildete ein Molekül, zuerst mit mir, dann mit der anderen Frau gegenüber auf der anderen Bank, kurzfristige Molekularverbindungen, flüchtig, schnell wieder aufgelöst. Ich ließ mich nicht aus meinem Tun, aus meiner Ruhe reißen - ich blieb Atom, für mich, in ihrem Molekül."
Schreiben-on-Tour. Ich habe versucht, durch die Brille einer Figur zu beobachten, über die ich demnächst schreiben möchte - eine ehemalige Schauspielerin:
Wie die das schaffen, und es scheint ihnen gar nichts auszumachen. Wachsen da so am Straßenrand. Gedeihen, oder? Scheint so. Aber ob sie nicht lieber im Wald, in einem Park, im Garten stehen würden? Sie haben keine Wahl und müssen nehmen, was sie kriegen. Den asphaltierten Boden - ja, können ihre Wurzeln denn darunter atmen? Müssen sie atmen, oder reicht ihnen vielleicht die Erde drunter, ich habe keine Ahnung, wie Bäume das machen mit dem Wachsen und überhaupt. Photosynthese, oder? Die Blätter. Chlorophyll und irgendwie verwandeln die Licht in Zucker oder was? Wahrscheinlich hab ich mir da ganz was Falsches eingeprägt, irgendwo aufgeschnappt und missverstanden. Auf jeden Fall, ihr Bäume, wie ihr das macht, was ihr da macht, wie immer ihr das hinkriegt - großartig. An den Straßen, in den Städten - ganz Paris sei voller Platanen, hab ich mal gehört. Toll. Platanen mag ich mit diesen Stämmen, ihrer Rinde, die sich schuppt. Und dann die kugeligen Dinger, die Früchte? Samen? Kuschelige Bäume sind das. Und ich hab keine Lust, mich da genauer zu informieren. Botanik? Fehlanzeige. Fachwissen? Wozu? Hat nicht der alte Willy schon was geschrieben darüber, dass man auch nicht mehr davon hat, wenn man erklären kann, wie ein Naturphänomen zustande kommt. Oder wie das im Fachjargon genau bezeichnet wird. Ja, William: "These earthly godfathers of Heaven`s lights …" und so. Taufpaten, fachidiotische. Und Oscar Wilde, der hatte auch was dazu zu sagen: Dass es besser ist, wenn einer sich an einer Rosenblüte freut, als wenn jemand ihre Wurzeln unter dem Mikroskop betrachtet. Oder so ähnlich. Ja, den Wilde, den hab ich nicht ganz so deutlich im Kopf wie den alten Klassiker. "Schlag nach bei Shakespeare …" Stimmt, da steht was drin und du findest immer ein passendes Zitat. Zu allem und jedem, jawohl. Wie bin ich jetzt nur ausgerechnet darauf gekommen? Von den Bäumen am Straßenrand? Ach ja, die Fantasie macht Sprünge, die sind schneller als so ein Bus fährt.
Gestern wieder „Schreiben-on-Tour“. Schreibend unterwegs, in irgendeinen Bus steigen, irgendwohin fahren, aufschreiben, was auffällt.
Ich habe den Ausflug diesmal dazu benutzt, die Protagonistin meines nächsten Romans kennen zu lernen, habe versucht, Menschen und Orte durch ihre Brille zu sehen und zu bewerten. Hier also einige Beobachtungen von Franziska Derossi, der Hauptfigur in meinem NaNoWriMo-Projekt, das in weniger als zwei Wochen startet:
- Eine spricht leise in ihr Phone, hört zu und wiegt den Kopf, während sie lachend etwas wegwischt.
- Den Trenchcoat-Gürtel hat er eng geschnallt, die Enden seines Schals akkurat übereinander gelegt. Bartschatten verdunkelt sein glatt rasiertes Gesicht. Die Augenbrauen permanent angehoben – schon graben sich Dauerfalten in die noch junge Stirn.
- Ihre Bluse besteht aus Patches, mal schräg, mal grade, quer oder längs, blau- oder rot-und-weiß gestreift. Darunter trägt sie Jeans in Größe 56 (mindestens). Sie stöhnt und setzt den Rucksack neben dem Rollenkoffer ab. Na, gute Reise!
- Mit Zottelmähne steigt er in den Bus, mit angegrautem, angegilbtem Vollbart und drei Kubikmetern von altem, kaltem Dunst um sich herum. Ankertattoo am Unterarm – Seebär, gestrandet.
- Von der Plakatwand lächelt der Sänger, mit dem Franziska mal studiert hat, einladend auf sie herunter. Aus ihm ist was geworden. Zu dem Konzert geht sie bestimmt nicht.
- Schuljungenstimme hinten im Bus tut quäkend wichtig, hört nach der nächsten Haltestelle auf. Draußen verschwindet ein blonder Haarschopf um die Ecke – sieht aus wie ein so netter Junge.
- Misteln schmarotzen draußen auf den inzwischen kahlen Zweigen, jetzt wieder sichtbar.
- Fades Gesicht, unreine Haut, aber den Ausschnitt ihres Shirts hat sie bis über beide Schultern nach unten geschoben. Hat sie sonst nichts zu bieten? Ihr Blick sucht.
- Ein Anbau mit Säulen am Reihenhäuschen – Besitzer’s “castle“.
- Hängt einer die zwei Handtücher im Vorgarten vom Wäscheständer ab und lässt sich Zeit und dreht sie um und lässt sich dabei Zeit und hängt sie wieder auf. Sein kleines Lächeln wird breiter, als er jemandem weiterhelfen kann – da lang, sagt er.
- Stadtfein gemacht mit Ohrringen, die nach Bijoux Brigitte glitzern, Schnallen an ihren Lackschuhen, schwarz glänzende Dauerwelle überm faltigen Gesicht, fährt sie im Bus - vielleicht zum allwöchentlichen Besuch bei ihrem Sohn oder der Tochter, oder zum allmonatlichen, vielleicht auch nur alljährlichen Treffen mit ihnen oder … Fährt sie etwa zum Tanztee? Die Haare sind doch ganz bestimmt gefärbt!
- Und Franziska fährt jetzt nach Hause, wo sie sich wieder vergraben kann und ihre Ruhe hat vor all der lästigen Nähe und den Gedanken.
Meine "Gedankenbewahrerin" vom letzten März schrieb die Sentenzen ihres Mannes Albert auf. Er dozierte auch über Bäume:
„Setz dich!“, befahl Albert und: „Schreib!“ Oh … Sie kramte das blaue Heft heraus, schlug es auf, zückte den Stift und sah ihren Mann an.
„Baum!“, verkündete Albert. „Wann ist ein Baum ein Baum? Im Winter sehen wir den Stamm, die Äste, Zweige. Im Sommer sehen wir das Laub, wir sehen sein Gerippe, sein Skelett, seine Struktur nicht mehr. Schreib schneller!“, herrschte er sie an, als sie nicht mitkam. „Das ist hier keine Schönschreibübung, du sollst notieren, was ich sage, bevor ich alles wieder vergesse!“ Seine Ermahnungen zwischendurch brauchte sie immer, um mit seinem Tempo Schritt zu halten. „Wann also“, sinnierte Albert weiter, „erfassen wir das Wesen eines Baumes? Können wir ihn je als ein Ganzes wahrnehmen und begreifen?“ Er sah triumphierend in die Runde, die Gespräche an seinem und dem Nachbartisch waren verstummt, alles blickte auf ihn. Margarethe stand über das Heft gebeugt, das sie zwischen Alberts Kuchenteller und Herrn Blaschewskis Tasse gequetscht hatte. Albert wedelte mit der Hand, das hieß, sie war entlassen. Den Rückweg zu ihrem Kaffeegedeck – Kirschsahne diesmal, das eine Highlight dieser Ausflüge – nahm sie außen herum. Frau Rambach sagte leise etwas, Margarethe verstand nur „Imponiergehabe“. Frau Leisel daneben sagte lauter: „Aber es ist doch so interessant, was er immer für Gedanken hat!“ Margarethe setzte sich wieder. Sahnetorte und Alberts Gedanken, ein guter Tag.
Schreiben-on-Tour gestern.
Diesmal habe ich eine Protagonistin losgeschickt, die nicht mit sich im Reinen ist:
Ein freier Tag. Du suchst Erholung und Natur, steigst in den Bus, fährst raus.
Der fest getretene Pfad am Fluss ist trocken, die Erde aufgerissen, das Gras am Rand verwelkt. Der Zufluss ein Rinnsal, er fließt nicht, tropft bloß. Die Nase weigert sich, den Moder hier einzuatmen, die Stille tut in den Ohren weh. Eine Glocke schlägt dich zurück in Zeit und Sound, du merkst: Die Stille ist nicht leer, sondern ein Summen von Straßen, irgendwo.
Nächste Woche Mittwoch, am 14.9., schreiben wir wieder on-Tour.
Mir wird sie nicht langweilig, diese Unternehmung. Die Tage gestalten sich jedesmal anders, es gibt neue Strecken, neue Begegnungen, Anregungen.
Aber vielleicht kriege ich auch Lust, schon bekannte, schon gefundene, beschriebene Orte noch einmal zu besuchen?
Beim Schreiben-on-Tour gestern fiel mir die "Gedankenbewahrerin" ein, eine Frau, die immer die mehr oder weniger tiefsinnigen Sentenzen ihres Mannes aufschreibt. Aus meinem Text:
So führte sie nun seit vielen Jahren sein Tagebuch, stellte sie sein philosophisches Wörterbuch zusammen.
„Rost!“, sagte Albert. „Rost ist der Aggregatzustand des Alters. Nicht mehr so fest wie früher, sondern brüchig, bröckelig. Er löst sich auf, er rieselt. Wird verschwinden.
Aber vorher“, sagte Albert und zeigte auf den alten Güterwaggon, „vorher welkt er vor sich hin, auf dem Abstellgleis, in aller Schönheit.
Oder?“, fragte Albert laut. Natürlich guckten alle zu ihm her, natürlich auch die Rambach, mit gespitztem Mund, gerümpfter Nase, wie Margarethe aus dem Augenwinkel sah. Doch Albert störte das nicht. „Oder?“, wiederholte er noch lauter. „Sie, junger Mann, Sie fotografieren die Schönheit des Alters?“ Der angesprochene junge Mann auf demselben Bahnsteig machte noch ein Bild vom Güterwaggon auf dem Gleis nebenan, drehte sich um, richtete die Kamera auf die Seniorengruppe und drückte auf den Auslöser. Dann machte er eine knappe Verbeugung und ging.
Nachwirkung des Schreibspaziergangs "scribitur ambulando":
Den folgenden Text habe ich Blandine in den Mund gelegt, einer Figur, an der ich seit Beginn dieses Jahres arbeite.
... stelle ich mir die Regeln für die geplante Unternehmung "scribitur ambulando" vor, sondern eher locker:
Wir machen einen gemeinsamen Spaziergang bei den Gönninger Seen und an der Wiesaz. Halten mal hier, mal dort. Schreiben, notieren, skizzieren, was uns ein- und auffällt.
Notizen unterwegs, vorgestern beim Schreiben-on-Tour:
Es gibt freundliche Regentropfen – diese sind es nicht. Sie sind auch nicht feindlich, sie kümmern sich gar nicht um dich, haben sich nicht gegen dich verschworen, rotten sich nicht zusammen, um dich zu ärgern, dich nass zu machen, damit du frierst. Sie fallen einfach, einer wie der andere, in Massen, neben- und nacheinander, miteinander, und es ist ihnen gleichgültig, wo sie landen.
Zum Beispiel in einer Pfütze, wo sie Ringe bilden, die größer werden, einander überlappen. Riffelmuster, eilig gemalt, verändert im Bruchteil von Sekunden. Und Blasen auf der Oberfläche, die zerplatzen. Der eine oder andere Tropfen springt nach der Landung wieder hoch, kleine Fontäne, rührender Versuch. Versuch? Hier versucht niemand was, nur du. Versuchst den Regentropfen Sinn zu unterstellen, eine Absicht. Absurd. Die Kreise in der Pfütze, mathematisch fast, doch nicht vom Mathematiker gezirkelt. Ellipsen, genau betrachtet, hier von der Seite, dein Kopf macht sie zu Kreisen.
Mit dem versuchst du eine Momentaufnahme, willst einen Augenblick als Standbild festhalten. Unmöglich. Versuche: Die Augen schließen, kurz auf, ganz kurz nur – gar nichts erkennst du da, ein großes Ganzes, das verschwimmt. Du machst ein Foto mit der Kamera, die leistet mehr als deine Augen.
Ein Bus fährt vor. Die Leute steigen ein, du nicht, du bleibst noch. Sitzt hier, auf dieser Holzbank unter der Arkade, und schaust dem Regen zu. Der Bus fährt ab und gibt den Blick frei auf den Brunnen gegenüber, der dir jetzt erst auffällt, der Wasser trielt, immerzu Wasser trielt aus vielen Rohren, von hier aus siehst du fünf davon, es müssen acht sein, denkst du. Später wirst du hinübergehen und sie zählen – zwölf sind es. Zwölf Wasserstrippen aus dem Brunnen verlieren heute gegen Regen, gegen Regentropfen, die gar nicht angetreten sind in diesem Wettkampf und unentwegt aus einem hellgrauen Himmel fallen, gleichgültig, wohin. Auf Ziegeldächer, die sie nass lackieren, kreiselnd in Pfützen. Und auf dich, wenn du jetzt weitergehst.
am 10.10.2013 in Reutlingen
Treffen morgens um 10.00 Uhr am ZOB vor der Bäckerei Keim, nachmittags zum Austausch um 17.00 Uhr im Bruschetta, Spendhausstr. 6, Reutlingen
Busfahren, wenn der Regen gegen die Scheiben klatscht? An Haltestellen sitzen, mit klammen Fingern ein paar Wörter schreiben, bevor das Papier durchweicht? Da werden sicher ganz andere Texte entstehen als beim ersten Schreiben-on-Tour an einem sonnigen Junitag.
Lesen ist Einatmen,
Schreiben Ausatmen
Auf meinen Baustellen ohne Dreck und Krach wird nicht mal Papierstaub aufgewirbelt, wenn die Texte auf dem Bildschirm entstehen oder die Fotos bearbeitet werden.
Meine Projekte sind Kurzprosa, Romane, Gedichte und Lesungen, außerdem Fotos und die Verbindung von Text und Bild.
Herzlich willkommen zu einem Blick - per Klick - über meine Schulter.